Im späten Frühjahr bekommen in unserer Region die Rehe Nachwuchs. In ihren ersten Lebenswochen können die Kitze ihren Müttern noch nicht ständig folgen. Daher legen die Ricken die Kitze in guter Deckung ab, während sie auf Nahrungssuche gehen. Besonders beliebt als „Kindertagesstätte“ des Rehwilds sind Wiesen mit hohem Gras. Hier bleiben die Kitze völlig regungslos liegen, zusätzlich hilft ihnen ihre Fellfarbe mit den charakteristischen weißen Flecken bei der Tarnung. Junge Rehkitze haben noch keinen Fluchtreflex, reglos auf der Stelle verharren ist ihr bester Schutz gegen hungrige Fressfeinde.
Dafür müssen sich die Rehe gerade zu dieser Jahreszeit aber die Wiesen mit einer anderen Nutzergruppe teilen: Den Landwirten, die in diesem Jahr bei günstiger Wetterlage Ende Mai mit der Heuernte begonnen haben. Heu ist getrocknetes und in Ballen gepresstes Wiesengras. Lange haltbar, ist Heu unverzichtbar als Winterfutter in der Vieh- und Pferdehaltung, letztere mittlerweile ein zweites Standbein vieler Bauernhöfe. Ricken müssen ihre Kitze verstecken, Landwirte müssen ihre Wiesen mähen: Aus diesem Konflikt resultierten in der Vergangenheit viele von Maschinen schwer verletzte oder getötete Rehkitze. So etwas schadet nicht nur dem Image der Landwirtschaft, sondern ist natürlich auch vor dem Hintergrund des Tierschutzes bedenklich. Heute werden Heuwiesen vor dem Mähen daher auf abgelegte Kitze kontrolliert und diese in Sicherheit gebracht.
Zu diesem Zweck gab es früher nur die Möglichkeit, die zu mähende Wiese mit mehreren Menschen und Hunden abzulaufen. Dies ist aber zeitaufwändig und durch das Zertreten von Gras nachteilig für die Heuernte. Heute gibt es eine bessere und modernere Methode. Die Heuwiesen werden vor der Mahd meist mit einer Kameradrohne überflogen. Abgelegte Kitze können so sicher festgestellt und „punktgenau“ gesichert werden. Der Schaden am zukünftigen Heu bleibt minimal.
Niedernhausen ist in der besonders glücklichen Situation, eine eigene Drohnen-Einheit der Feuerwehr zu besitzen. Diese Einheit, dem Löschverband Oberseelbach-Lenzhahn angegliedert, unterstützt während der Heuernte die freiwilligen Kitzretter vom Verein Kitzrettung Rheingau-Taunus. Hier sind Frühaufsteher gefragt, denn die Einsätze finden meist beim ersten Morgengrauen statt. Jetzt sind die Rehe aktiv, und der Landwirt hat nach dem Einsatz den ganzen Tag zum Mähen zur Verfügung.
Möglichst nah an der zu kontrollierenden Fläche wird das Einsatzfahrzeug der Drohneneinheit in Stellung gebracht, von einer Plane am Boden aus steigt die Drohne in die Luft. Das Gerät trägt Hightech im Bauch: Mit einer Wärmebildkamera bildet die Drohne selbst feinste Temperaturunterschiede ab. Die Wiese wird nun nach einem vorher berechneten Kurs systematisch abgeflogen. Auf einem Bildschirm am Einsatzfahrzeug sehen die Piloten, was die Drohne sieht: Zunächst die Ansicht einer Wärmebildkamera. Hier tauchen zwischen verschiedenen Grautönen die warmen Körper von Lebewesen als weiße Flecken auf. „Richtig weiß muss es sein, lautet der Merksatz der Drohneneinheit“ erklärt Andreas Zerbe, Wehrführer beim Löschverband Oberseelbach- Lenzhahn.
Wird ein Lebewesen erkannt, heißt es die Drohne mit viel Fingerspitzengefühl sinken zu lassen, jetzt wird auf die Normalbild-Kamera umgeschaltet. Oft kann an diesem Punkt Entwarnung gegeben werden: Auch andere Tiere wie Feldhasen verstecken sich gerne im hohen Gras und werden von der Drohne erkannt. Anders als die Rehkitze flüchten die Hasen aber vor herannahenden Maschinen und können getrost sich selbst überlassen werden. Bei dringendem Verdacht auf ein abgelegtes Kitz ist Fußarbeit angesagt: Eine Gruppe von Kitzrettern macht sich auf den Weg in die Wiese, an den von der Drohne im Schwebeflug angezeigten Punkt und über Sprechfunk vom Beobachter am Bildschirm dirigiert.
Bis auf wenige Zentimeter Höhe kann die Drohne sinken. Nun müssen die Beobachter genau hinschauen. Selbst aus nächster nähe sind die perfekt getarnten Rehkitze im hohen Gras schwer zu erkennen. Sollte ein Kitz im hohen Gras liegen, wird es vorsichtig aus dem Gefahrenbereich getragen. Mit Handschuhen und Grasbüscheln sorgen die Helfer dafür, dass kein Menschengeruch am Kitz haftet, der dessen Mutter vielleicht vertreiben könnte. Am Rand der Wiese decken die Helfer das Kitz zu dessen Schutz mit einem Wäschekorb ab. Nach Abschluss der Mäharbeiten wird der Korb entfernt und das Kitz nach kurzer Zeit wieder von seiner Mutter abgeholt. Die Drohneneinheit kann dann, wie man in der Fachsprache der Feuerwehr so schön sagt, „wieder in die Unterkünfte einrücken.“
Der Löschverband Oberseelbach-Lenzhahn sucht mit seiner Kameradrohne aber nicht nur in der Heusaison nach Kitzen. Das ganze Jahr über wird bei verschiedenen Einsätzen geflogen. Bei der Suche nach vermissten Personen in unwegsamem Gelände spart die Drohne Zeit und Personal. Auch Brände in Wald und Feld können aus der Luft erkannt und ihre Bekämpfung effektiv geplant werden. Bei Bränden an Gebäuden sucht die Wärmebildkamera an der Drohne nach verborgenen Glutnestern.
Mit dem „Spezialauftrag“ Kitzrettung ist die Drohneneinheit an etwa 20 bis 25 Tagen im Jahr im Einsatz. In diesem Jahr wurden bisher 39 Kitze gefunden aus dem Gefahrenbereich der Mähmaschinen gebracht. Andreas Zerbe zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden: „Wir machen das nicht zum Spaß, hier werden wirklich Leben gerettet!“